Verein ist mehr als nur Aufbewahrungsinstrument

Die Einführung der Ganztagsschulen stellt viele Sportvereine auf die Probe. Eine Auseinandersetzung mit Pro und Contra dieses Konzepts am Beispiel Hamburg und des Turnerbunds Hamburg-Eilbeck.

In Hamburg kooperieren viele Vereine bereits mit den Schulen. Foto: picture-alliance
In Hamburg kooperieren viele Vereine bereits mit den Schulen. Foto: picture-alliance

Im Herzen Hamburgs stellen sich an diesem Tag wichtige Fragen. Ganz wichtige. Völkerball oder Fußball? Das ist die schwierige Entscheidung, die sich den sechzehn Dritt- und Viertklässlern gerade stellt. „Fußball! Völkerball bockt sich nicht“, ruft Yannick. Paul protestiert: „Nicht schon wieder Fußball! Das spielen wir ständig!“ Die Kinder rufen durcheinander, sie sind aufgedreht. Es ist ein langer Tag für die Neun- und Zehnjährigen: Seit acht Uhr sind sie in der Schule, jetzt ist es bereits halb vier. Nach Unterrichtsende übernimmt bis 16 Uhr der Hort die Betreuung und wird dabei dreimal die Woche vom benachbarten Sportverein unterstützt. Über eine Kooperation bietet der Verein Leichtathletik, Ballspiele und Judo an – je 90 Minuten einmal in der Woche.

Keine Zeit mehr für den Sport

Der T.H.-Eilbeck ist einer von 25 TopSportVereinen in Hamburg und hat rund 3.000 Mitglieder. Seit neunzehn Jahren ist Udo Hein (53) dort Geschäftsführer, die Kooperationen mit benachbarten Schulen gehören schon seit längerer Zeit zum Alltag: „Als Verein musst du heutzutage mit den Schulen kooperieren, denn viele Kinder erreichst du anders nicht mehr. Die meisten Kinder sind bis 16 Uhr in der Schule und haben danach oft keine Zeit mehr, noch zum Sport zu kommen.“ Gerade auf die Mannschaftssportarten mit den festgelegten Trainingszeiten, fürchtet Hein, wird sich das auswirken: „Für die jungen Einzelsportler gibt es mehrere Trainingsgruppen an verschiedenen Tagen. Eine Mannschaft kann sich aber nicht nach jedem Einzelnen richten. Wir haben in den letzten Jahren häufig – viel häufiger als noch vor acht oder neun Jahren – als Kündigungsgrund von den Eltern mitgeteilt bekommen, dass ihrem Kind aufgrund der schulischen Termine und der Belastung keine Zeit mehr für den Sport bleibt.“

Das Leben in den Sportvereinen wird sich absehbar noch einmal grundlegend verändern. In Hamburg hat sich die Zahl der Ganztagsschulen in den letzten Jahren bereits mehr als verdoppelt, 2009 gab es mehr als 150 Schulen, die auf das gemeinsame Lernen von 8 bis 16 Uhr setzen und wenn es nach der Politik geht, wird weiter ausgebaut. Ab dem Sommer 2013 sollen alle Grundschulen der Hansestadt an dem Projekt ‚Ganztägige Bildung und Betreuung an Schulen’ (GBS) teilnehmen, es ist eine der größten Reformen im Hamburger Schulwesen. Schulsenator Thies Raabe sagt stolz: „Wir wollen in den nächsten drei Jahren sehr viele Hamburger Grundschulen zu Ganztagsschulen entwickeln. Das ist ein großer Schritt, der Eltern und Kindern sehr viele neue Chancen bringt und die Lernvoraussetzungen deutlich verbessert.“

Wer sich als Verein damit zu arrangieren weiß, ist für die nächsten Jahre gut aufgestellt. In Eilbek ist dies der Fall – zumal der Geschäftsführer dem Thema Ganztagsschule offen begegnet: „Grundsätzlich ist es natürlich sinnvoll, gerade für Eltern, die beide berufstätig sein wollen oder müssen. In jeder Veränderung liegt gleichzeitig auch immer eine Chance. Durch mehr Kooperationen erreichen wir die Kinder in kompletten Gruppen und so auch Kinder, die sonst vielleicht nur vor dem Computer hocken würden. Wir bieten ihnen – und natürlich auch den Kindern, die sich gerne bewegen und Sport treiben wollen – die Chance, dies integriert in die normale Schulzeit zu tun.“

Doch birgt diese Perspektive auch gleichzeitig ein Risiko – für den Verein, der auf Mitglieder angewiesen ist, um zu überleben. Denn Kinder, die in der Schule bereits bis zu fünfmal die Woche Sport machen, müssen nicht in den Verein eintreten, wenn es ihnen oder ihren Eltern „nur“ um Bewegung geht. Hein: „Diese Gefahr bestand bei uns schon. Wir hatten an einer Grundschule eine große Austrittsfluktuation, mit der Begründung: ‚Mein Kind macht ja schon zweimal die Woche 90 Minuten Gratis-Sport über die Kooperation, da können wir uns den Vereinsbeitrag sparen.‘ Das darf natürlich nicht Sinn der Sache sein.“

Außerdem müsse man darauf achten, dass die Kooperation nicht nur als Aufbewahrungsinstrument genutzt würde, warnt Hein. Das sei in Teilen jetzt schon der Fall. Die Kinder in den besagten Stunden hätten keine Lust auf die Sportart und würden sich generell nicht bewegen wollen, müssten aber teilnehmen, da die Eltern sie angemeldet haben, um die Kinder betreut und bewegt zu wissen. Hein: „Das bedeutet eine ganz andere Herausforderung an unsere Trainer und Übungsleiter.“ Auch finanziell müsse nachgebessert werden, wenn es nach dem langjährigen Geschäftsführer geht: „Wir kriegen für eine Kooperation insgesamt 750 Euro – und das für zehn Monate. Wir reden also von 75 Euro im Monat, für eine Einheit pro Woche. Was man dafür an qualifizierten Trainern bekommt, braucht man gar nicht lange nachzurechnen. Das ist dermaßen weit weg von der Realität!“

Bessere schulische Leistungen durch Sport

Der SV Eidelstedt (SVE) zeigt hingegen schon, wie es in Zukunft laufen soll. Der Verein hat an der Stadtteilschule Lohkampstraße, an der das Konzept „GBS“ seit vergangenem August getestet wird, eine tragende Rolle in der Betreuung vor und nach dem Unterricht übernommen. Bereits nach vier Monaten berichtete das Hamburger Abendblatt unter dem Titel „Vereine machen Schule“ vom hervorragenden Verlauf. Der SVE organisiert in der Schule jeden Tag von 6 bis 8 Uhr morgens und von 13 bis 18 Uhr nachmittags die Betreuung mit einem bunt gemischten Sportangebot. Finanziert werden die Leistungen von der Schulbehörde. Schüler und Lehrer sind von dem Modell begeistert. Schulleiterin Annika Pfeiffer wird mit den Worten zitiert: "Wir haben festgestellt, dass die Kinder seitdem konzentrierter im Unterricht mitarbeiten und ihre schulischen Leistungen besser geworden sind. Wir hören auch immer öfter, dass die Kinder zu Hause entspannter und aufnahmebereiter seien als früher.“

Ob die GBS-Reform in allen Schulen so erfolgreich ist wie an der Lohkampstraße, wird sich erst zeigen müssen. Auch, welche konkreten Auswirkungen diese auf die Sportvereine und ihren Alltag haben werden, muss abgewartet werden – indes nicht tatenlos. Denn die Verantwortlichen sollten währenddessen tunlichst vorsorgen. So wie in Eilbek. Udo Hein hat gemeinsam mit den Schulen eine Methode entwickelt, damit sich der Verein auch in Zukunft nicht überflüssig macht: „Wir lassen Sportangebote nicht über einen zu langen Zeitraum laufen, sondern sagen irgendwann, dass wir zum Beispiel Judo ab jetzt für eine andere Altersgruppe als bisher anbieten. Wenn die Kinder das Sportangebot weiterführen wollen, müssten sie das bei uns im Verein tun.“ 

(Quelle: DOSB-Presse, Ausgabe 23)


  • In Hamburg kooperieren viele Vereine bereits mit den Schulen. Foto: picture-alliance
    In Hamburg kooperieren viele Vereine bereits mit den Schulen. Foto: picture-alliance